BGH, Beschluss vom 27. September 2022, KZB 75/21 | Sportrechtliche Einordnung
Die Sportschiedsgerichtsbarkeit ringt noch immer mit den Folgen der Entscheidung des BVerfG in der Causa Pechstein (BVerfG, Beschluss vom 3. Juni 2022 – 1 BvR 2103/16), da droht ihr bereits neues Ungemach. Die Entscheidung des Kartellsenats des BGH vom 27. September 2022 (KZB 75/21), wonach Schiedssprüche im Hinblick auf die Anwendung der §§ 19-21 GWB in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einer uneingeschränkten Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte unterliegen, könnte für Verbände mit einer marktbeherrschenden Stellung weitreichende Folgen haben.
Bis zur Entscheidung des BGH war unter den deutschen Oberlandesgerichten die Reichweite des sog. Verbots der révision au fond bei der Überprüfung von Schiedssprüchen mit kartellrechtlicher Bedeutung umstritten. Anerkannt war nur, dass kartellrechtliche Sachverhalte schiedsfähig sind und zwingende nationale und europäische Verbotsnormen des Kartellrechts zur öffentlichen Ordnung (ordre public) gehören.
Der BGH begründet seine Entscheidung zur unbeschränkten Überprüfbarkeit des Kartellrechts insbesondere damit, dass kartellrechtliche Verbotsnormen der Wahrung des öffentlichen Interesses an einem funktionierenden Wettbewerb dienen und damit nicht nur den Privatinteressen der Parteien der Schiedsabrede. Das Bundeskartellamt verfüge bei staatlichen Verfahren zur Wahrung des öffentlichen Interesses an einem wirksamen Wettbewerb über umfassende Beteiligungsbefugnisse nach § 90 Abs. 1 GWB. Staatliche Gerichte seien im Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV zudem befugt bzw. verpflichtet, Vorlagefragen an den EuGH zu richten. Bei Schiedsverfahren sei weder eine Beteiligung des Bundeskartellamtes noch eine Anrufung des EuGHs möglich.
Laut BGH spricht gegen eine Beschränkung auf eine bloße Evidenzkontrolle kartellrechtlicher Schiedssprüche auch die Komplexität der Anwendung der kartellrechtlichen Verbotsnormen. Da insbesondere die nach § 19 GWB erforderliche Interessenabwägung immer nur einzelfallbezogen vorgenommen werden kann, käme eine „offensichtliche“ Verletzung dieser Normen – und damit ein ordre public-Verstoß – nur sehr selten in Betracht. Eine wirksame Durchsetzung kartellrechtliche Verbote könne so im Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit unterlaufen werden.
Eine umfassende Kontrolle entspräche auch dem Willen des Gesetzgebers, weil die Streichung des alten § 91 Abs. 1 S. 1 GWB (Pflicht zur Einräumung eines Wahlrechts zwischen ordentlichen Gerichten und Schiedsgerichten im Rahmen von Schiedsverträgen mit kartellrechtlichem Bezug) und die damit geschaffene generelle Schiedsfähigkeit kartellrechtlicher Streitigkeiten damit begründet worden war, dass Schiedsgerichte Kartellrecht in gleicher Weise wie ordentliche Gerichte zu beachten haben und eine Kontrolle der Schiedssprüche durch ordentliche Gerichte gewährleistet sei. Der BGH stellt mit dem jetzt gefassten Beschluss klar, dass jede fehlerhafte Anwendung der zwingenden Vorschriften des (europäischen) Kartellrechts zum Verstoß gegen die öffentliche Ordnung i.S.d. § 1059 Abs. 2 Nr. 2b ZPO führt – unabhängig davon, ob die fehlerhafte Anwendung offenkundig oder offensichtlich ist.
Die Entscheidung, der kein sportrechtlicher Sachverhalt zugrunde lag, dürfte für (Spitzen-) Sportverbände von erheblicher Bedeutung sein. Diese sind wegen des „Ein-Platz-Prinzips“, wonach für jede Sportart und Region stets nur ein Sportverband zuständig ist, mit einer marktbeherrschenden Stellung ausgestattet und deshalb Adressat von (europäischen) Kartellrechtsnormen. Hinzu kommt, dass diese Sportverbände Athleten aufgrund ihrer Monopolstellung die Teilnahmebedingungen für Wettkämpfe – einschließlich Schiedsabreden – faktisch aufoktroyieren können. Für diese Verbände hat jede Streitigkeit automatisch eine kartellrechtliche Dimension. So waren z.B. Anti-Doping-Regeln, Vermarktungsregeln, Spielervermittler- und Transferregeln, Ticketing-Vorschriften und auch Werbebeschränkungen behördlich oder (schieds-)gerichtlich bereits Gegenstand kartellrechtlicher Überprüfungen.
Der Beschluss des BGH droht für diese Verbände faktisch eine „Berufungsinstanz“ für Schiedssprüche einzuführen und damit der Schiedsgerichtsbarkeit im Bereich des Sports wesentliche Vorteile zu rauben. Verfahren – auch vor den Schiedsgerichten, die sich auf die Vollüberprüfung von Kartellrecht in Aufhebungs- oder Vollstreckbarerklärungsverfahren einrichten müssen – werden länger und kostspieliger, das Ergebnis des Rechtsstreits wird oft erst viele Jahre nach dem Entstehen der Streitigkeit feststehen. Auch die Vertraulichkeit von Schiedsverfahren wird durch die kartellrechtlich umfassende Überprüfung in einer öffentlichen Verhandlung vor dem staatlichen Gericht in Frage gestellt. All dies liegt weder im Interesse der Verbände noch der Athleten.
Im internationalen Vergleich gefährdet die Entscheidung des BGH die Attraktivität des (Sport-)Schiedsstandortes Deutschland. Andere EU-Mitgliedsstaaten, zum Beispiel Frankreich, halten an einer eingeschränkten Überprüfung von Schiedssprüchen auf Verstöße gegen des (EU)-Kartellrecht fest. Ähnliches gilt für die Schweiz, dem beliebtesten Schiedsstandort der Sportbranche. Dort gehört das Kartellrecht nicht zum ordre public. Schiedssprüche des CAS (Court of Arbitration for Sport), der seinen Sitz in Lausanne hat, dürften in der Praxis unter der Rechtsprechung des BGH „durchsegeln“, da ein Aufhebungsverfahren nur vor dem schweizerischen Bundesgericht initiiert werden kann und die Vollstreckbarerklärung eines staatlichen Gerichts wegen des Selbst-Vollzugs sportgerichtlicher Entscheidungen durch die Verbände praktisch keine Rolle spielt. Gerade der Fall Pechstein hat aber gezeigt, dass auch Schiedssprüche des CAS sich der deutschen Gerichtsbarkeit nicht in jedem Fall entziehen können.
Es bleibt zu hoffen, dass der Beschluss des BGH nicht den Auftakt zu einer fortwährenden Aushöhlung des Verbots der révision au fond auch für weitere durch zwingendes Recht geregelte Bereiche, wie etwa das (europäische) Verbraucherschutzrecht, bildet.